31.03.2021, bvdn bdn bvdp

Positionspapier: Digitalisierung in der Medizin und ihre Umsetzung in Neurologie und Psychiatrie

Die Berufsverbände Deutscher Nervenärzte, Neurologen und Psychiater haben sich mit dem Thema „Digitalisierung“ in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt und die Protagonisten aus der Reihe der Fachärzte konnten umfassende Erfahrungen zu Digitalisierungsthemen sammeln.

Vor einigen Jahren bereits wurde von BVDN, BDN und BVDP in Zusammenarbeit mit Hausärzten das ZNS-Konsil entwickelt. Im Rahmen eines digitalen Konsils können bei Patienten mit neurologischen und psychischen Erkrankungen sehr zeitnah definierte Fragestellungen auf der Grundlage leitlinienbasierter Handlungsalgorithmen mit den entsprechenden Fachärzten diskutiert und eine gemeinsam abgestimmte Behandlungsstrategie realisiert werden. Dabei fand ein neues Verfahren zur Übermittlung der Patientendaten unter Einhaltung der Datensicherheit Anwendung. Das ZNS-Konsil wurde als innovative Versorgungsform zertifiziert und für einen Gesundheitspreis nominiert. Weiterentwicklung erfuhr diese digitale Versorgungsform mit der Erarbeitung einer Neuro- und einer Psych-App, um Patientendaten zwischen den Behandlungsterminen aufzuzeichnen, Termine zu verwalten und standardisierte Kommunikationswege zwischen Patienten und Praxis zu ermöglichen, einschließlich der Möglichkeit einer zertifizierten Videosprechstunde.

Diese Instrumente sind geeignet, besonders bei Patienten mit neurologischen und psychischen Erkrankungen, mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen und insbesondere bei multimorbiden Patienten Behandlung zu realisieren. Es bedarf allerdings auch entsprechender Ausgestaltung der digitalen Behandlungskonzepte, damit insbesondere diese Patienten von der notwendigen Behandlung ausreichend profitieren können.

Corona-bedingt hat gerade die Videosprechstunde eine Aufwertung in vielen Fachrichtungen erfahren – dies trifft in besonderem Maße auf die Neurologie und Psychiatrie zu. Eine Verstätigung dieser Behandlungsform in den kommenden Jahren auch durch Einbezug von Betreuungs- und Bezugspersonen im Lebensumfeld der Patienten – auch in Pflegeheimen oder betreuten Wohngemeinschaften – ist wünschenswert. Als Sonderform während der Corona-Quartale bewährte sich die Möglichkeit der Behandlung über Telefonkontakte – tatsächlich eine vermeintlich altbackene, aber sehr effektive telemedizinische Maßnahme, die gerade für Patienten mit schwereren Beeinträchtigungen, Multimorbidität oder schwierigen Anfahrten eine hervorragende Ergänzung (!) zu der klassischen Sprechstunde darstellt.

Hier können Vorstellungen vermieden werden, indem bekannte Patienten telefonisch kontaktiert werden um Behandlungsschritte zu vereinbaren und Verordnungen auszustellen. Damit konnte die ohnehin vorteilhafte dezentrale fachärztliche Versorgung in Deutschland den aktuellen Hygienestandards angepasst und noch sicherer für Patienten gestaltet werden. Dennoch müssen wir uns der Frage stellen:

Sind wir als Fachärzte für Neurologie sowie Psychiatrie und Psychotherapie ausreichend auf die Post-Covid-Syndrome vorbereitet?

Bei der Betrachtung früherer Epi- und Pandemien wird deutlich, dass insbesondere neuropsychiatrische Erkrankungen nach Überwinden der akuten somatischen und infektiologisch zu behandelnden Erkrankungen ausgelöst durch psychosoziale Belastungssituationen (Wirtschaftskrisen etc.) sowohl somatische Folgeerkrankungen (z. B. hirnorganische und immunologische Folgekrankheiten) als auch psychische Erkrankungen eine zunehmende Rolle spielen.

Insbesondere Angsterkrankungen, depressive Erkrankungen, aber auch Suchterkrankungen treten danach gehäuft auf. 80% der Covid-19-Erkrankten leidenzudem an neurologischen Komplikationen. Um hier Patienten zeitnah und indikationsgerecht behandeln zu können, müssen vorhandene Ressourcen gebündelt werden. Es ist aber mehr notwendig.

Wir brauchen neue Versorgungswege und „Versorgungsräume“!

Kommerzielle Anbieter von digitalen Medizinleistungen zeigen uns bereits jetzt, wie Versorgung anonym organisiert werden kann. Sog. „Health Apps“, „Amazon-Ärzte“, die Selektivverträge mit Krankenkassen eingehen, Online-Apotheken, Medikamenten- und Rezeptverwaltungen im „Online-Health-Store“ stehen bereit, in die Versorgung zu kommen. Damit kann sich ein Parallel- Behandlungsraum eröffnen. Die einzigartige qualitativ hochwertige fachärztliche Versorgung in Deutschland, die individualisierte Medizin mit kontinuierlicher Behandlung durch einen Bezugsarzt ermöglicht, steht damit schnell in Konkurrenz zu Online-flatrate-Angeboten. Soll sich das bestehende Versorgungssystem weiterentwickeln, muss es gelingen, neue Elemente zu integrieren statt darauf zu warten, Bewährtes durch Discounter-Angebote zu ersetzen. Folgende Grundsätze sollten dabei beachtet werden:

Online-Angebote (wie z. B. Videosprechstunde, aber auch telefonische Behandlung) dürfen nur für dem Arzt persönlich bekannte Patienten ermöglicht werden. Für eine differenzierte Diagnostik in den Bereichen Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie wie auch in vielen anderen Bereichen der Medizin muss eine umfassende Untersuchung erfolgen. Begrenzt man eine Untersuchung ausschließlich auf das Gespräch, so ist sie auch im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie unvollständig. Informationen für eine Diagnosestellung (Verhalten in der Gesprächssituation, Geruchssinn, Interaktionsvermögen im Raum, psychovegetative Entäußerungen des Patienten, usw.) können ausschließlich durch Video-oder Telefonkontakt nicht fließen. Die Angebote anonymer Call-center im Gesundheitsbereich können keine ganzheitliche Betrachtung des Patienten ermöglichen und können so mitunter die Patientensicherheit sogar gefährden.

  • Durch Ausstellung von Formularen (AU-Bescheinigung, Rezepte, …) besteht eine Missbrauchsgefahr, wenn diese ausschließlich über Video-und Telefonkontakte realisiert werden und kein direkter Patientenkontakt besteht.
  • Doppelstrukturen müssen verhindert werden. Patienten, die sog. Online-Angebote durch anonyme externe Anbieter in Anspruch nehmen, nehmen eben daneben auch weiterhin persönliche Arzt-Kontakte wahr. Parallelstrukturen entstehen und das ohnehin fragmentierte Versorgungssystem wird unübersichtlicher. So kann es zu sich widersprechenden Therapieempfehlungen kommen.
  • Die fortschreitende Kommerzialisierung der Medizin und die Abhängigkeit von Digital- Konzernen in der Patientenversorgung müssen verhindert werden.
  • Digitale Versorgungsangebote können für die Patienten versteckte Kostenfallen darstellen. Eine fachliche Beratung und Begleitung sind hier notwendig, um den Patienten die Versorgung zukommen zu lassen, die erforderlich ist.
  • Mit der Übernahme der Versorgung durch ausschließlich digitale Angebote geben Vertragsärzte Steuerungs- und Handlungsspielräume aus der Hand. Dies gilt individuell für einen einzelnen Patienten in dessen Behandlungsplan, gleichwohl aber auch für die Entwicklung des Versorgungssystems.

eRezept, eAU, ePatientenakte der elektronische Heilberufeausweis und viele neue Elemente mehr halten Einzug in die vertragsärztlichen Praxen. Auch bei aktuell noch bestehender Zurückhaltung bis Ablehnung werden uns die elektronischen Kommunikationsformen im Arbeitsalltag in kurzer Zeit bereichern.

Für die Akzeptanz dieser Neuerungen muss der Nutzen deutlich erkennbar sein:

  • Die Elemente müssen schwellenarm in den Praxisalltag übernommen werden können.
  • Gleiche Regeln müssen in allen Versorgungssektoren gelten: auch in der stationären Versorgung muss es zur Implementierung der elektronischen Übermittlung von Daten kommen, insbesondere bei der Speicherung von Patientendaten und der Auslesbarkeit über die eGK.
  • Das Einweisungs-und Entlassmanagement muss mit den elektrischen Formularen ermöglicht werden – damit ist die taggenaue Übermittlung der Befunde möglich.
  • Praktikable Nutzung der genannten Versorgungselemente insbesondere bei Menschen mit hirnorganischen Einschränkungen muss garantiert werden. Besonders für diese Patientengruppe ist die genaue und zeitnahe Datenübermittlung von Bedeutung. Nach der aktuell verfügbaren Anwendungsbeschreibung der eGK kann nicht von einer schwellenarmen Nutzung gesprochen werden.
  • Daten auf der eGK müssen für alle an der Versorgung eines Patienten teilnehmenden Berufsgruppen einsehbar sein – auch für Sozialarbeiter und Pflegepersonal usw.

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) für einige Krankheitsbilder sind auf dem Markt. Insbesondere die psychologisch-psychotherapeutischen Interventionen stoßen hier auf Interesse. Diese bedienen durch die viel diskutierte Wartezeitenproblematik sowie die inhaltliche Nähe zu Lifestyle-Interventionen und Coaching-Angeboten auch den Grenzbereich zwischen Gesund- und Krankheit.
Auch hier zeigen wir Problemfelder auf:

  • Fakt ist, dass die psychotherapeutisch anmutenden Angebote für sehr begrenzte Beschwerde- und Symptom-Konstellationen entwickelt wurden und nur bei einer geringen Krankheitslast als alleinige „Behandlung“ eingesetzt werden sollten.
  • Hier ist es keinesfalls ausreichend, dass ein Arzt dafür ein Rezept ausstellt, sofern es sich um einen Patienten handelt, der einer fachärztlichen Behandlungbedarf.
  • Eine Rückkopplung der Kommunikationsdaten mit dem behandelnden Arzt muss erfolgen, um nicht Parallel-Kommunikationsstrukturen entstehen zu lassen.
  • Die Nutzung der DiGA durch Patienten und Arzt gleichermaßen kann wiederum die Behandlung bereichern, Therapieschritte beschleunigen unddurch ereigniskorrelierte Dokumentationshilfen und KI-Elemente eine Interventionshilfe darstellen. Dies stellt aber eine neue Intensivierungsstufe der Behandlung dar, die zeitaufwändig ist und deswegen neue Vergütungsregelungen erfordert.
  • Selbstverständlich sollten DiGAs wissenschaftlich anerkannt sein.

Neue Versorgungswege und „Versorgungsräume“

Ressourcen können durch Vernetzung unterschiedlicher Ärzte und Therapeuten einschließlich Pflege identifiziert und genutzt werden –aus diesem Grunde entsteht die Richtlinie zur vernetzten und koordinierten berufsgruppenübergreifenden Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nach § 92 Absatz 6a SGB V.

  • Integration digitaler Versorgungselemente erweitert das Versorgungsspektrum patientenzentriert.
  • KI-Anwendungen können bei Diagnostik und Behandlung hilfreiche Ergänzungen sein.
  • Auch hier muss der Mehrwert/Nutzen deutlich werden für Patienten/Angehörige, Ärzte/Therapeuten, Kostenträger, Komplementärversorger.
  • Informationsaustausch und Dokumentation muss vereinheitlicht werden und für alle an der Versorgung eines Patienten gleichermaßen erreichbar sein – keine Parallelstruktur zu den Praxis-Dokumentationssystemen.

Aktuelle Möglichkeiten sehen wir als Neurologen und Psychiater durch folgende Anwendungsformen und sind über Umsetzungen der Ideen mit IT-Partnern im Gespräch:
1. Praxis-App (Nachrichten aus der Praxis, Terminerinnerung, Therapieerinnerung, Aufklärungs- und Informationsmaterialien, Videosprechstunde)
2. Online-Terminbuchung Chat-Funktion,
3. e-Rezept und eAU vom Bezugsarzt.
Damit kann ein Behandlungsbündnis mit dem Patienten eingegangen werden, bei dem sich Präsenztermine mit digitalen Anwendungen ergänzen. Für den Patienten ist dieses implementierte und hybride Versorgungsmodell aus folgenden Gründen vorteilhaft:

  • der eigene Bezugsarzt ist weiterhin präsent. Der Facharzt ist oft der primäre Ansprechpartner für die beschriebene Patientengruppe. Durch seine Kenntnis der Gesamtversorgungssituation und der bestehenden regionalen und fachübergreifenden Behandlungsmöglichkeiten kann er den Patienten indikationsgerecht und individuell beraten. Die Therapieadhärenz kann so verbessert werden.
  • Für eine vernetzte und indikationsgerechte multiprofessionelle Versorgung sind digitale Anwendungen nötig – damit kann u. a. die Zeit bis zur Diagnosestellung verkürzt werden, wenn digitale Anwendungen eingebettet in den Direktkontakt Informationen komprimiert präsentieren.
  • Fachlich hochwertige Informations-und Kommunikationsmöglichkeiten können digital unterstützt für Patienten niedrigschwellig zugänglich gemacht werden.
  • Wege- und Wartezeigen können verkürzt werden.
  • Durch zeitnahe Behandlung kann Krankheitsprogression und damit verbundene lange AU-Zeiten verhindert werden.
  • Folgekosten, wie z. B. Krankengeld können eingespart werden.
  • Die Arzneimittelversorgung kann optimiert werden.

Wir fragen nicht mehr: „wollen wir die digitale Welt oder lieber nicht?“ Wir fragen: „wie gestalten wir die digitale Versorgung unserer Patienten“

Neue Räume der Versorgung müssen durch Digitalisierung und in Ergänzung der bestehenden Struktur erschlossen werden! Dafür sind Veränderungsbereitschaft und Gestaltungswille aller Beteiligten erforderlich.

Aus unseren umfassenden Vorarbeiten haben wir Erkenntnisse gewonnen, die für die Gestaltung der weiteren Versorgung hilfreich sind:

  • Selektivverträge scheitern, da sie immer nur einen kleinen Anteil an der Gesamtversorgung abbilden, die Komplexität in der Praxis ohne anhaltenden Mehrwert erhöhen und fast immer von den Kostenträgern gekündigt wurden. Eine Überführung der Modelle in die Regelversorgung muss erfolgen. Dafür bedarf es der Regelung durch den Gesetzgeber.
  • Wir brauchen nicht noch mehr Modellprojekte – die Entwicklung neuer Versorgungsstandards ist erforderlich.
  • Der gesamte workflow muss digital unterstützt sein. Dies betrifft sowohl die Administration und Dokumentation als auch die Leistungserbringung an sich.

Hybride Strukturen der Leistungserbringung müssen entwickelt werden. Für eine breite Akzeptanz der Neuerungen muss eine Begleitung sowohl durch IT-Spezialisten als auch die medizinischen Experten erfolgen.

 

Dr. Sabine Köhler
Vorsitzende Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN)

Dr. Uwe Meier
Vorsitzender Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN)

 

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Positionspapier: Digitalisierung Inder Medizin und ihre Umsetzung in Neurologie und Psychiatrie