Kortikale Kolumne

Die Kortikale Kolumne im Dezember 2022

Von der Freiheit, vom Glück, in diesem Land leben zu dürfen und von der Verantwortung, dass dies lebenswert bleiben mag

 

Wir haben in der jüngeren Geschichte in Deutschland seit etwa 8 Jahrzehnten Frieden und wachsenden Wohlstand erfahren dürfen. Ich habe mir von Historikern erklären lassen, dass derartige Perioden in der Weltgeschichte äußerst selten seien. Wir leben demnach geografisch und historisch gesehen zu einer privilegierten Zeit an einem privilegierten Ort. Das hält viele der Land- und Zeitgenossen nicht davon ab, sich nicht ohne Verbitterung über die Umstände hierzulande zu beklagen und einen Opferstatus für sich in Anspruch zu nehmen. Frieden, Freiheit und Wohlstand sind natürlich nicht die einzigen Faktoren für ein glückliches Leben. Es gibt davon unabhängig existentielle Krisen, Krankheiten und andere schreckliche Dinge, die uns von einem glücklichen Leben trennen können. Und natürlich läuft einiges schief im Land. Oft ist aber auch nur Bequemlichkeit, Phantasielosigkeit und Unachtsamkeit im Spiel, weil wir uns zu wenig vergegenwärtigen, wie es in anderen Ländern und zu anderen Zeiten gewesen ist oder sein könnte.

 

Unser Gehirn beschäftigt sich halt immer mit dem Ausschnitt dieser Welt, der ihm gerade zugänglich ist und nicht mit der Möglichkeit denkbarer und schlechterer Alternativen. Das ist im Prinzip gut, weil das Gehirn Lösungen und Anpassungsstrategien für die aktuellen, realen Lebensumstände finden soll. Erweitern wir den Bewusstseinshorizont auf alle möglichen Lebensumstände, zahlt das Gehirn einen metabolischen Preis, sprich es wird zusätzlich  anstrengend, obwohl dies für die meisten unmittelbaren Lebenssituationen gar nicht erforderlich wäre. Evolutionsbiologisch ist das nachvollziehbar, dieses Prinzip hat aber auch seine Tücken. Würden wir uns nicht nur mit den unmittelbaren Bedrohungen, sondern auch noch mit abstrakten Risiken beschäftigen, hätten wir z.B. das Klimaproblem vielleicht zu einem Zeitpunkt angepackt, als die Handlungsmöglichkeiten und die zeitliche Perspektive noch größer waren. Viele Probleme hätten vermieden werden können, wenn wir nicht nach dem Prinzip der möglichst umfassenden Bedürfnisbefriedigung im Hier und Jetzt handelten, sondern auch vorausschauend und vor allem unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit denken und handeln würden. Das ist mehr analytisch als moralisch gemeint. Ich, der ich bis jetzt weitgehend von schwerer Krankheit und existentiellen Lebenskrisen verschont wurde, bin selbst Nutzniesser einer Ressourcenzuteilung der jüngeren Geschichte, die das Wohl derjenigen im Blick hat, die jetzt leben und wählen und nicht das Wohl künftiger Generationen. Ich hab also leicht reden. Ich kann mir aber auch ins Bewusstsein rufen, wie glücklich ich sein kann, in einem Land leben zur dürfen, das in den letzten acht Jahrzehnten von Krieg verschont ist, das mir einen gewissen Wohlstand oder eine soziale Absicherung sowie eine gute Gesundheitsversorgung ermöglicht und das durch demokratische Werte und Zusicherung weitreichender Bürgerrechte geprägt ist, ohne dass ich selbst etwas dafür getan habe. Kleine Gedankenspiele, die uns in eine andere Zeit oder an einen anderen Ort katapultieren, führen uns vor Augen, wie wir auf keinen Fall leben wollen und diese Art von Vergleich macht uns sofort ein wenig glücklicher und im besten Fall auch demütiger und dankbar.

 

Haben meine Eltern noch die letzten Kriegsjahre und die Nachkriegszeit erlebt und habe ich das anhand der Erzählungen und Nachwehen noch anschaulich reflektieren können, waren für spätere Generationen Wohlstand und Frieden das selbstverständlichste auf der Welt. Es ist ein bisschen so selbstverständlich wie das Wasser für den Fisch, in dem er schwimmt (zumindest glaube ich, dass dies für den Fisch selbstverständlich ist auch ohne tiefgreifende Reflexion). Das ist gut so, hat aber auch eine Nebenwirkung: sind wir zu sehr behütet, können wir kaum so etwas wie Resilienz aufbauen. Und genau die werden wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten brauchen.

 

Wir verzeichnen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Zeitenwenden. Die Folgen von Krieg in Europa, Klimawandel, Rezession, Inflation und Energiekrise dringen in unser kollektives Bewusstsein und beunruhigen uns. Auf der einen Seite machen wir weiter wie bisher. Wir haben uns an Wohlstand, Frieden und Überfluss gewöhnt und wähnen uns in der trügerischen Stimmung, das Leben kontrollieren und uns gegen alle möglichen Widrigkeiten absichern zu können. Auf der anderen Seite ahnen wir, dass das immer schwieriger werden könnte und Angst trübt unsere Zuversicht. Wir brauchen nicht nur Resilienz, um die innere Stärke zu besitzen, den Anforderungen auch schwieriger Lebensverhältnisse Stand zu halten. Wir müssen auch handeln und keiner von uns kann die Herausforderungen allein bewältigen. Das Gehirn ist ein soziales Organ, wir sind nur im Verbund überlebensfähig. Dies vergessen wir oft in einer überindividualisierten, hocharbeitsteiligen in weiten Teilen von Entfremdung geprägten Gesellschaft. Wir brauchen daher noch etwas: Gemeinschaftssinn und Sozialverantwortlichkeit. Eine Gesellschaft, in der das eigene übergroße Ich das Zentrum der Welt ist, wird den Aufgaben nicht gerecht werden können. Das Thema Resilienz soll in einer der kommenden Kolumnen betrachtet werden. In diesem Teil geht es vor allem um das Verhältnis von individuellen und gesellschaftlichen Interessen.

 

Ich bin auf das Thema gestoßen, als ich morgens im Radio ein Pro und Contra zum Beibehalt der Maskenpflicht gehört habe. (Keine Angst, das Thema Pandemie ist nur der Aufhänger, darum geht es hier im engeren Sinne nicht). Die Pro-Argumente brauchen kaum wiederholt zu werden, sie dürften den meisten vertraut sein. Der Vertreter der Contra-Position hat allerdings in einer Weise argumentiert, die ich symptomatisch für die Stimmung nicht nur in diesem Land finde: Es sei jetzt genug mit Masken und staatlicher Bevormundung, die Bürger dieses Landes sollten das vielmehr eigenverantwortlich entscheiden, schließlich handhaben wir das mit Tragen von Fahrradhelmen ähnlich. Es wird hier einmal mehr mit einem, wie ich meine, problematischen Freiheitsbegriff argumentiert.

 

Noch einmal: es geht mir hier nicht um eine Position, sondern um die Argumentation. Experten und Politiker sollten entscheiden, ob es zum derzeitigen Zeitpunkt im Übergang von einer Pan- zur Endemie sinnvoll ist, die Viruslast in einem Bus über eine Maskenpflicht zu senken oder ob man der Viruslast freien Lauf lässt ohne über Regeln einzugreifen. Beide Strategien mögen eine Berechtigung haben. Keinesfalls kann man hier allerdings mit Eigenverantwortlichkeit argumentieren. Wenn man sich darauf einigt, dass das Senken der Viruslast in öffentlichen Verkehrsmitteln ein sinnvolles Ziel ist, kann man dieses Ziel eben nicht über die „eigenverantwortlichen“ Entscheidungen jedes einzelnen herstellen. Dies braucht entweder Regeln und/oder ein einheitliches kollektives Verhalten, weil es eben nicht darum geht, wie es MIR mit der Maske geht, sondern ob es gut für die Allgemeinheit ist. Ich habe nicht die Freiheit einer eigenverantwortlichen Entscheidung, wenn ich damit anderen womöglich schade. Deshalb hinkt der Fahrradhelm-Vergleich gewaltig. Wenn ich stürze, muss ich die Folgen für mein eigenes Schädelhirntrauma und damit die Folgen meiner eigenverantwortlichen Entscheidung tragen. Hier greift der Begriff der Eigenverantwortlichkeit und die Logik der Argumentation. Wenn es so wäre, dass ich mit meinem Verzicht auf einen Fahrradhelm möglicherweise die Schädelhirntraumen anderer verursache, wäre diese Argumentation hingegen absurd.

 

Auf die Gefahr, dass ich mich wiederhole: es geht mir nicht um die Maske hier, sondern um das Verhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit. Beides gehört zusammen. Das hat nicht ohne Grund eine lange philosophische und politische Tradition. In seinem Standardwerk „Two Treatises of Government“ hat John Locke 1690 die Idee der Volkssouveränität entwickelt und die Idee, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und sich hieraus das Recht auf Leben, Freiheit, das Streben nach Glück ableitet und dass „zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten“. Das mutet abstrakt philosophisch an. Diese Gedanken haben aber auch Eingang in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gefunden, übrigens sehr zum Missfallen von König Georg, dem III. Und sie sind damit Grundlage der amerikanischen Verfassung und eines Politikverständnis, das auch das moderne Westeuropa geprägt hat. Freiheit wird damit zu einem zentralen Begriff demokratischer Grundordnungen westlicher Prägung. Locke schreibt aber auf der anderen Seite  auch, und das ist ein ebenso zentraler Punkt, dass diese Freiheit nicht „Zügellosigkeit“ bedeutet, sondern sich daraus auch ableitet, anderen nicht zu schaden. Oder um mit Nietzsche zu sprechen: „Unsere Pflichten, das sind die Rechte anderer auf uns“. Vielleicht vergegenwärtigen wir uns vor diesem Hintergrund und auch in Anbetracht der weltpolitischen Entwicklungen in Russland, im Iran und anderswo, dass Freiheit sich nicht von alleine einstellt, sondern das Ergebnis einer zum Teil leidvollen Geschichte und von Aufklärung ist. Diese Freiheit erfahren wir aber nur, wenn alle einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten.

 

Vor diesem Hintergrund erscheint es absurd, dass der Freiheitsbegriff in der öffentlichen Diskussion Eingang gefunden hat z.B. zur Ablehnung von Masken- oder Impfpflichten. Unabhängig von Sinn und Unsinn einzelner Maßnahmen, über die man ja durchaus kritisch diskutieren kann und muss: wenn diese Maßnahmen politischer Konsens sind, kann dies nur funktionieren, wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung daran hält, sonst schwindet die Grundlage eines freiheitlich-demokratischen Staates. Es ist eben nicht meine Freiheit, betrunken Auto zu fahren oder rote Ampeln zu ignorieren. Oder anders formuliert: wenn meine Freiheit darin bestehen sollte, in jedem Zustand und ungeachtet der Verkehrsverhältnisse so Auto zu fahren, wie  es meinen Bedürfnissen entspricht, müssen diese beschränkt werden. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben in diesem Zusammenhang den Begriff der „gekränkten Freiheit“ kreiert, der auch der Titel eines von ihnen verfassten und sehr lesenswerten Bestsellers ist. Sie beschreiben darin den Typus eines libertären Autoritären, der sich als macht- und einflusslos gegenüber einer komplexer werdenden Welt erfährt, dies als Kränkung erlebt und daher lautstark für individuelle Freiheiten streitet, die er als Freiheit von Rücksichtnahme, gesellschaftlichen Zwängen und gesellschaftlicher Solidarität versteht.

 

Was passiert, wenn Egomanie, Geschichts- und Philosophievergessenheit zum Maßstab politischen Handelns werden, haben wir in den USA beobachten müssen. Und viel schlimmer und auf grausame Weise sehen wir es jetzt auch in Russland. Geschichte scheint sich nicht immer nur fortschrittlich in eine Richtung zu bewegen. Was wir brauchen ist natürlich auch Eigenverantwortlichkeit, aber eben auch Gemeinschafts-Verantwortlichkeit. X-First-Mentalität ist toxisch. Im Kleinen wie im Großen.

 

Was hat das alles mit Neurologie zu tun? Das Gehirn ist, wie bereits oben zitiert, ein soziales Organ und evolutionsbiologisch ist es auf soziale Gruppen von Clan-Größe optimiert. Überleben war nur in der Gruppe möglich. Soziale Isolation bedeutete den Tod. Arbeitsteilung in Gruppen überschaubarer Größe ist immer konkret offensichtlich, Verstecken ist kaum möglich oder wird erkannt und geahndet. Neben den  biologischen Determinanten wurde Sozialverhalten auch von Kulturleistungen gestützt. Hoch arbeitsteilige moderne Gesellschaften haben es dagegen mit Entfremdungsphänomenen zu tun. Natürlich sind wir auch weiterhin nur im Sozialverbund überlebensfähig. Der Beitrag jedes Einzelnen ist aber abstrakt und die Möglichkeiten der Entsolidarisierung sind vielfältiger. Der Soziologe Hartmut Rosa hat ein ebenfalls sehr lesenswertes Buch über die Soziologie der Weltbeziehung geschrieben. Demnach sei Resonanz das Versprechen der Moderne, die Entfremdung aber ihre Realität. Entfremdung kann man als einen spezifischen Modus der Weltbeziehung auffassen, der als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ definiert wird. Die Welt scheint dem Subjekt gleichgültig gegenüberzustehen oder gar feindlich entgegenzutreten. Der entscheidende Satz in diesem Zusammenhang ist die Feststellung, dass das „Autonomieverlangen der Moderne nicht die Lösung für ihre Entfremdungserfahrungen“ darstellt, sondern eher eine ihrer Ursachen bildet.

 

Was steht also an? Was ist zu tun? Wir sollten die evolutions- und neurobiologischen Bedingungen unseres Daseins verstehen und akzeptieren lernen. Aber dabei dürfen wir nicht bleiben. Wir sind zu Kulturleistungen in der Lage und sollten diese Fähigkeit auch systematisch entwickeln – zu unserem eigenen Wohl, aber auch zum Wohl der anderen. Was wir brauchen ist eine Bewusstseinskultur, die uns unsere wechselseitigen sozialen und auch umweltbezogenen Abhängigkeiten immer wieder vergegenwärtigt. Wir müssen den Trichter unserer Aufmerksamkeit  immer wieder weiten und auf größere Zusammenhänge richten, damit das Ego keinen unverhältnismäßig großen Raum in unserem Bewusstsein einnimmt. Wir müssen das tun, auch wenn es manchmal anstrengend und unbequem ist und es einfacher wäre in Regression zu verfallen und wie ein Kind die maximale Aufmerksamkeit für die eigene Bedürfnisbefriedigung auf sich zu ziehen. Sozialverantwortlichkeit, wohlwollendes Verhalten unseren Mitmenschen gegenüber und Freundlichkeit fängt bei jedem einzelnen an. Ich selbst bin diesbezüglich weder frei von Widersprüchen, noch mag ich ein Meister darin sein. Dennoch kann es Orientierung und Maßstab sein. Ich werde mir zum Jahreswechsel daher die Zeit nehmen und meinen Kompass wieder justieren.

In diesem Sinne schließt diese Kolumne mit dem Wunsch nach geruhsamen und friedlichen Weihnachten und einen freudvollen, wenn das auf Grund welcher Umstände auch immer nicht möglich ist, einen von innerer Stärke getragenen Übergang ins neue Jahr!

Ihr
Uwe Meier

Dieser Text ist in gekürzter und leicht abgewandelter Form auch im Editorial des Neurotransmitter Nr. 12 2022 des Springerverlags erschienen.

NeuroTransmitter Ausgabe 12/2022

 

 

Die Kortikale Kolumne- Februar 2022: Von der Freiheit und von der gegenseitigen Rücksichtsnahme

In einer Sonderedition des Philosophie-Magazins hat der Schriftsteller und Japankenner Christoph Peters einen bemerkenswerten Essay über das Sumimasenprinzip veröffentlicht. Er weist auf eine andere Geistesgeschichte Japans hin, die von vorauseilender Deeskalation und gegenseitiger Rücksichtsnahme im gesellschaftlichen Miteinander geprägt ist und stellt die westliche Kultur gegenüber, in der das Ich das Zentrum der Freiheit ist. Die letzten zwei Jahre Pandemiegeschichte legen von dieser Ich-Zentriertheit bemerkenswert Zeugnis ab.

Auch während ich diese Kolumne schreibe, werde ich – wie jeden Samstag in Düsseldorf – Zeuge, wie draußen auf der Straße Tausende Impfgegner ihre verlorene Freiheit beklagen, lautstark musikalisch untermalt mit dem „Freiheitslied“ von Marius Müller-Westernhagen (der sich natürlich davon distanziert hat), einige haben sich Schilder mit der Aufschrift Gandhi umgehängt. Es wäre absurd, dies zum Anlass zu nehmen, hierüber einen ernsthaften philosophischen Diskurs über den Freiheitsbegriff zu führen, wenn nicht andererseits auch Spitzenpolitiker uns dieser Tage den „Freedom-Day“ in Aussicht stellten und zeitgleich an der Umsetzung einer „einrichtungsbezogenen“ Impfpflicht für Mitarbeitende in Gesundheitseinrichtungen feilen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: in unserer Praxis sind alle geimpft und geboostert. Selbstverständlich. Was sonst? Aber es hat ein Geschmäckle, wenn Politiker dies von uns fordern als ethisch geboten (wir hätten uns ja einen anderen Job aussuchen können) und gleichzeitig der übrigen Bevölkerung mit sprachlichen Pathos den Weg „in die Freiheit“ weisen. Hier wird ethisch, und das können wir im Gesundheitssystem regelmäßig beobachten, mit zweierlei Maß gemessen. Die Einen reklamieren für sich die Freiheit, jederzeit ohne Einschränkungen und „freiheitsentziehender“ Maßnahmen wie das Tragen einer Maske so zu verhalten, ihre Atemluft auszustoßen und damit zur Einatmung durch ihre Mitmenschen freizugeben. Auf der anderen Seite die vielen Mitarbeitenden in Kliniken und Praxen, die sich dann aufopfernd in Überstunden bis an ihre Belastungsgrenzen um die Infizierten kümmern, selbstverständlich alle geimpft, um die „sensiblen“ Bevölkerungsgruppen zu schützen.

Es ist eine medial wenig beachtete Absurdität in diesem Kontext, dass Arztpraxen während der gesamten Pandemiezeit zu den letzten Freiheitsinseln für freiwillig Ungeimpfte und Verschwörungstheoretiker gehört haben: wir haben jedem Patienten auch ungeimpft und ungetestet den Zugang zur Praxis zu gewähren. In Praxen galt von jeher Null G. Den Zugang zu versperren, hieße gegen Berufsrecht zu verstoßen. Egal, ob wir damit andere Patienten gefährden oder unsere Mitarbeiter und uns selbst. Egal, ob MitpatientInnen infiziert werden oder unsere Praxen durch Impfdurchbrüche und Quarantäneregeln ausgedünnt und handlungsunfähig werden.

Selbstverständlich müssen wir jeden behandeln, unabhängig von politischer oder religiöser Überzeugung, auch die Unvernünftigen und auch Schwerverbrecher. Das ist in der Tat Bestandteil ärztlicher Ethik. Das Berufsrecht und die ethischen Grundlagen dieser Maxime gehören an dieser Stelle nicht auf dem Prüfstand, aber die Prinzipen des gesellschaftlichen Miteinanders: Freiheit ist auf der anderen Seite immer mit Pflichten verbunden. Unsere Politiker haben den „Bürgerinnen und Bürgern“ zugemutet, sich vor dem Betreten eines Restaurants oder eines Klamottenladens zu testen. Warum wird dies nicht auch von Patienten bei elektiven Arztbesuchen verlangt? Es geht ja nicht darum, medizinische Notfallmaßnahmen zu unterlassen, in denen selbstverständlich andere Maßstäbe gelten. Es geht schlichtweg darum, die vielen geimpften Mitpatienten zu schützen, die nicht nur auch zu den vulnerablen Gruppen gehören, sondern auch eine viel größere Gruppe darstellen. Da hilft auch nicht der Hinweis, gesonderte Sprechstunden auszuweisen, wenn in diesen sich unsere Mitarbeitenden und wir selbst uns infizieren und das Virus weitertragen. Politiker weisen uns auf unsere medizinethischen Verpflichtungen hin und es mag Ihnen auf diesem Hintergrund egal sein, wenn wir uns reihenweise infizieren. Das ist aus den genannten Gründen unlogisch, sowohl in Hinblick auf die Dynamik von Infektionsketten, als auch ethisch inkonsequent und widersprüchlich. Letzteres last not least, weil wir einen Versorgungsauftrag wahrzunehmen haben. Unsere Patienten brauchen uns. Gerade Neurologen, Nervenärzte und Psychiater waren auch zu Beginn der Pandemie für ihre Patienten da und haben dazu beigetragen, die Versorgung aufrecht zu halten und Kliniken zu entlasten. Der krankheits- oder quarantäntebedingte Zusammenbruch von Versorgungsketten hilft niemandem.

Statt also selektive Impfpflichten für einzelne Berufsgruppen auszurufen, sollten Politiker mutiger grundsätzlich mehr Pflichten einfordern, nicht nur von Mitarbeitenden von Gesundheitseinrichtungen. Es geht dabei nicht nur um behördliche Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie. Es geht vor allem auch um ein gesellschaftliches Klima, dass zunehmend von ichzentrierter Toxizität geprägt ist. Gesellschaftliche Freiheit bedeutet eben auch Pflichten. Diese einzufordern mag Wählerstimmen kosten, sichert aber auf Dauer die Demokratie und eben ein von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägtes gesellschaftliches Miteinander.

Was Menschen dazu bringt, sich als Freiheitskämpfer gegen eine imaginierte Diktatur zu inszenieren und sich in einer Linie mit den großen Idolen wie Gandhi zu sehen, mögen die PsychiaterInnen unter uns erklären. Mir wird von so viel Geschichtsignoranz übel und ein wenig bange. Das ist der Stoff, der Menschen dazu bringt, das Capitol zu stürmen. Hoffen wir, dass unsere Gesellschaft und Politiker, anders als in den USA, dem auch langfristig eine andere Kultur entgegensetzen können. Ein falsch verstandener und hedonistisch geprägter Freiheitsbegriff gepaart mit einer übergroßen Empörungsbereitschaft tut uns nicht gut. Lernen wir von den Japanern, bei denen es schon vor dieser Pandemie selbstverständlich war, die Mitmenschen zu schützen. Wer nicht weiß, was Sumimasen ist: bitte unbedingt googlen.

Ihr
Uwe Meier

Dieser Text ist in gekürzter und leicht abgewandelter Form auch im Editorial des Neurotransmitter Nr. 3 2022 des Springerverlags erschienen.

NeuroTransmitter Ausgabe 03/2022